50 Jahre Aichhalden-Rötenberg
Aichhalder Nachrichten
Festvortrag von Carsten Kohlmann beim Festakt am 20. September 2024 in der Josef-Merz-Halle
Carsten Kohlmann M.A. (Oberndorf am Neckar)
„Zangengeburten gibt lebensfähige Kinder“ -
50 Jahre Gemeinde Aichhalden & Rötenberg
Festvortrag beim Festakt
der Gemeinde Aichhalden am 20. September 2024
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Lehrer,
sehr geehrte Herren Alt-Bürgermeister Kühner und Sekinger,
liebe Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde Aichhalden & Rötenberg,
sehr geehrte Damen und Herren,
mit der „Paradiestour Aichhalder Grenzweg“ besitzt die Gemeinde Aichhalden ein besonderes Denkmal zur Erinnerung an die Geburt unseres heutigen Landes Baden-Württemberg in ihrer Kulturlandschaft. Zwischen den beiden Ortsteilen Aichhalden und Rötenberg erinnern ehemalige Grenzsteine des Königreichs Württemberg und des Großherzogtums Baden aus dem 19. Jahrhundert an die ehemalige Grenze zwischen diesen beiden Ländern am Beginn des Schwarzwaldes. Vom „Zollhaus“ bietet sich den Grenzwegwanderern einer der schönsten Ausblicke im Mittleren Schwarzwald, der weit über das Kinzigtal und bei guter Sicht bis zu den Vogesen reicht.
Die „Paradiestour Aichhalder Grenzweg“ erinnert daran, dass Grenzen unterschiedlicher Art die Geschichte der beiden heutigen Ortsteile Aichhalden & Rötenberg über Jahrhunderte geprägt haben: Grenzen zwischen Landschaften, zwischen Gesteinen, zwischen Territorien und Staaten, zwischen Konfessionen und Gemeinden. Der engagierte Lokalhistoriker Jürgen Hils hat die Bedeutung dieser Grenzen in seinen Forschungen, Publikationen und Vorträgen in den letzten Jahren aufgezeigt.
Gleichzeitig wird einem ebenso bewusst, dass die von Menschen geschaffenen Grenzen durch Zusammenschlüsse überwunden werden konnten, wenn es im Interesse einer guten Zukunft geboten war – zunächst durch den Zusammenschluss zwischen Baden und Württemberg am 25. April 1952 und etwa ein Vierteljahrhundert später durch den Zusammenschluss von Aichhalden & Rötenberg am 1. Juli 1974.
Am 1. Juli 2024 war daher der 50. Geburtstag der heutigen Gemeinde Aichhalden, die zu ihrem Jubiläumsjahr ein Logo geschaffen hat, das die beiden Ortsteile Aichhalden & Rötenberg auf eine sehr gelungene Art und Weise im Jahr ihrer „Goldenen Hochzeit“ als Partner mit einem erneuerten Eheversprechen miteinander verbindet. Die Gemeinde würdigt diesen 50. Geburtstag mit einem Festakt und einem Festwochenende mit Gewerbeschau.
50 Jahre nach der damaligen „Zangengeburt“ können die 4283 Bürgerinnen und Bürger nach der letzten Bekanntgabe der Bevölkerungszahl durch das Statistische Landesamt Baden-Württemberg mit Freude und Dankbarkeit auf eine in der Summe bemerkenswerte Erfolgsgeschichte eines gemeinsamen Weges zurückblicken. Aichhalden & Rötenberg erscheinen jedenfalls als gutes Beispiel für die Redensart, dass eine Zangengeburt zwar oft sehr schwierig ist, daraus aber später sehr lebensfähige Kinder werden.
Diese Erfolgsgeschichte ermöglichten das Engagement, der Fleiß und die Heimatliebe der Bürgerschaft, eine gute Zusammenarbeit im Gemeinderat und im Ortschaftsrat sowie eine gute Kontinuität in der Entwicklung und Führung der Gemeinde, indem die Bürgerschaft ihren Bürgermeistern Reinhold Kühner und Ekhard Sekinger immer wieder ihr Vertrauen aussprach. Die Integration der beiden Ortsteile in der Gesamtgemeinde kann mittlerweile als abgeschlossen betrachtet werden. Beispielhaft ist auch der kommunalpolitische Konsens mit der Festlegung von Prioritäten, die danach erfolgreich umgesetzt werden.
50 Jahre – ein halbes Jahrhundert – sind eine lange Zeit. Im Lauf dieser Zeit wuchsen neue Generationen heran, die das damalige Geschehen nicht aus eigenem Erleben, sondern nur aus Erzählungen kennen – zum Beispiel der heutige Bürgermeister Michael Lehrer, der in der Zeit geboren wurde, als Aichhalden & Rötenberg in der Zeit der damaligen „Gemeindereform“ des Landes Baden-Württemberg nach Wegen für ihre Zukunft rangen. Wer beim Zusammenschluss von Aichhalden & Rötenberg 40 Jahre alt war, ist mittlerweile 90 Jahre alt – oder etwas älter wie Alt-Bürgermeister Reinhold Kühner heute.
Es gibt damit guten Grund, zum 50-jährigen Jubiläum auf die „Zangengeburt“ von Aichhalden & Rötenberg zurückzublicken, zum einen als Erinnerung für die noch lebenden Zeitzeugen, zum anderen als Einblick für die jüngeren Generationen in ein selten spannendes Kapitel der Heimatgeschichte. Ich wurde als Historiker und Kulturwissenschaftler mit der Aufgabe betraut, die Gründung der heutigen Gemeinde Aichhalden schlaglichtartig in den Kontext der Landes-, Regional- und Ortsgeschichte zu stellen, da ich mich schon mehrfach zu Gemeindejubiläen mit diesem interessanten Thema befasst habe – allgemein verständlich mit dem „groben Rahmen“ in „großen Linien“, kurz gefasst in einer starken halben Stunde. Sie werden hören und sehen: All‘ das füllt ein Buch, so dass ich das Thema nur in einer Art „Einführung“ anreißen kann.
In der jungen Bundesrepublik Deutschland war Baden-Württemberg nach seiner Gründung am 25. April 1952 ein neues Land, das drittgrößte Bundesland nach Bayern und Niedersachsen und nach Nordrhein-Westfalen das zweitgrößte Industrieland. Die 1950er-Jahre waren vom demokratischen Neubeginn, dem ersten Zusammenwachsen der in der alliierten Besatzungszeit gebildeten Länder Württemberg-Baden, Baden und Württemberg-Hohenzollern, dem wirtschaftlichen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und der Integration von 900.000 Flüchtlingen und Heimatvertriebenen aus den verlorenen Ostgebieten des ehemaligen Deutschen Reiches geprägt.
Nach der Aufbauzeit in den 1950er-Jahren konnte das junge Land in den 1960er-Jahren daran gehen, seine Zukunft systematisch zu planen. Eine „Große Koalition“ aus den beiden führenden Parteien CDU und SPD hatte in zwei Kabinetten unter der Führung des CDU-Ministerpräsidenten Hans Filbinger (1913 – 2007) von 1966 bis 1972 die Kraft, ein in der Geschichte des Landes bis heute beispielloses Reformwerk auf den Weg zu bringen, auf dessen Grundlagen in Baden-Württemberg die öffentliche Verwaltung bis heute beruht.
Ein zentraler Punkt dieses Reformpaketes war im Kontext eines „Landesentwicklungsplans“ eine große Gebietsreform. Fast alles stand damals in der Diskussion und kam in eine historisch einmalige „Bewegung“: die Landkreise, die Städte und Gemeinden. Gut ein Jahrzehnt später sah das Land mit nur noch 35 Land- und neun Stadtkreisen völlig anders aus als zuvor mit 63 Land- und neun Stadtkreisen.
Fast wäre auch der Landkreis Rottweil von der Bildfläche verschwunden, der am 7. Dezember 1970 mit seinen Gegnerblöcken aus Schramberg und Schwenningen zugunsten eines angedachten Großkreises Villingen-Schwenningen bereits seine Selbstauflösung beschlossen hatte, durch das starke Engagement des CDU-Landtagsabgeordneten Robert Gleichauf (1914 – 1992) aber überlebte. In diesem „Strudel“ mussten sich die Gemeinden Aichhalden und Rötenberg wie viele andere Gemeinden orientieren – keine leichte Aufgabe für die damaligen Bürgermeister und Gemeinderäte! „Veränderungen in der Verwaltungsstruktur gehören zu den schwierigsten Aufgaben eines politischen Systems“, hat es der Historiker Dr. Thomas Schnabel als langjähriger Direktor des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg einmal gut auf den Punkt gebracht.
Seit dem Zeitalter der Industrialisierung hatte sich die Siedlungs-, Sozial- und Wirtschaftsstruktur auch in Südwestdeutschland erheblich verändert. Die Verwaltungsstruktur war jedoch im Großen und Ganzen unverändert geblieben und beruhte nach wie vor auf den Grundlagen, die im Großherzogtum Baden und im Königreich Württemberg im Zeitalter Napoleons geschaffen worden waren – abgesehen von einer Kreisreform in der Zeit des Nationalsozialismus, in der zum 1. Oktober 1938 auch der Kreis Rottweil entstanden war.
Im NS-Staat wurden Raumordnung und -planung nach ersten Ansätzen in der Weimarer Republik aus ideologischen Gründen stark ausgebaut. Es kam auch im Kreis Rottweil zu ersten Fusionen und Eingliederungen von Gemeinden mit dem Ziel größerer Gebietskörperschaften – zum 1. April 1934 zur Fusion von Sulgau und Sulgen und zum 1. April 1939 zur Eingliederung der Gemeinde Sulgen in die Stadt Schramberg.
Im Rahmen eines „Groß-Schramberg-Plans“ strebte der damalige Schramberger Bürgermeister und NSDAP-Kreisorganisationsleiter Dr. Friedrich Arnold (1899 – 1972) auch eine Eingliederung der Gemeinden Aichhalden und Lauterbach an. Die Landesplanungsgemeinschaft Württemberg-Hohenzollern lehnte seinen Plan aber ab, ebenso wie der Gemeinderat von Aichhalden, der damit schon früh ein Zeichen für den Erhalt der kommunalen Selbständigkeit setzte – und damit zumal in einer Diktatur auch bemerkenswerten Mut zeigte. In dieser freiheitsliebenden Haltung blieben sich die Aichhaldener treu und stellten sie auch 40 Jahre später in der „Gemeindereform“ des Landes Baden-Württemberg wieder unter Beweis.
Mitte der 1960er-Jahre hatte die Regierung des Landes Baden-Württemberg erkannt: „Durch die raschen Veränderungen auf allen Gebieten des sozialen Lebens, der Wirtschaft, der Technik, sind den öffentlichen Verwaltungen neue Funktionen und Aufgaben zugewachsen und zwingen sie, sich den veränderten Umweltbedingungen und der neuen Entwicklung, vor allem auf dem Gebiet der Automatisierung anzupassen.“
Dabei kam man insbesondere zu der Auffassung, dass kleine Gemeinden für die zukünftigen Aufgaben nicht mehr die erforderliche Finanz- und Verwaltungskraft besitzen würden. Und kleine Gemeinden hatte Baden-Württemberg mit seiner ausgeprägt kommunalen Struktur und Tradition zuhauf: Am 31. Dezember 1968 gab es 3378 Gemeinden, von denen 1000 Gemeinden weniger als 500 Einwohner, 1800 Gemeinden weniger als 1000 Einwohner und 2500 Gemeinden weniger als 2000 Einwohner hatten.
Den Anfang der Gemeindereform machte nach dem Beispiel ähnlicher Gesetze in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen am 26. März 1968 das „Gesetz zur Stärkung kleinerer Gemeinden“, das im Bereich der heutigen Gemeinde Aichhalden mit der Eingliederung der Gemeinde Bach-Altenberg in die Gemeinde Rötenberg zum 1. Januar 1969 ein Kuriosum ganz eigener Art beendete. Entstanden war Bach-Altenberg am 16. Juli 1819 nach Meinungsverschiedenheiten in der Bevölkerung, die zu einer Abspaltung von Rötenberg führten. Derartige Vorgänge gab es damals in der Zeit der Neuorganisation des Gemeindewesens im Großherzogtum Baden und im Königreich Württemberg öfter, so 1818 mit der Trennung von Lehengericht von Schiltach und 1850 mit der Trennung von Hardt von Mariazell.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begannen die beiden Gemeinden indes wieder zusammenzuwachsen: 1923/24 kam es nach langen Konflikten am Ende doch zu einer gemeinsamen Wasserversorgung, 1935 zu einer Gemeinschaftsschule, 1954 zur Wahl eines gemeinsamen Bürgermeisters, 1964 zum Bau einer gemeinsamen Leichenhalle und 1966/67 zum gemeinsamen Bau einer neuen Schule. Die „Wiedervereinigung“ wurde am 1. Januar 1969 von der Bevölkerung mit Gesang- und Musikverein und Freibier in den Gasthäusern fröhlich gefeiert und von dem CDU-Landtagsabgeordneten und damals noch ganz frisch ernannten Finanzmister Robert Gleichauf als erster Schritt zur Gemeindereform im Landkreis Rottweil in ihrer historischen Bedeutung gewürdigt.
Für das Reformpaket und den „Landesentwicklungsplan“ wurde der räumliche Entwicklungsstand von Baden-Württemberg genau untersucht. Grundlegend war dabei die Definition von „Zentralen Orten“ und „Verflechtungsräumen“, das heißt von kleineren Gemeinden, die mit einer größeren Stadt in „sozioökonomischen“ Beziehungen standen. Damit waren beispielsweise Arbeitsplätze, Behördengänge oder Schulbesuche gemeint. Aus dem Ergebnis wurden „Oberzentren“, „Mittelzentren“ und „Unterzentren“ abgeleitet und „Entwicklungsachsen“ bestimmt – Begriffe, die bis heute in der Landesplanung gültig sind.
Die bisher feststellbaren und zukünftig gedachten Raumbeziehungen wurden vom Innenministerium auf „Verflechtungskarten“ dargestellt. Für den Landkreis Rottweil ergaben sich dabei die fünf zukünftigen „Verwaltungsräume“ Schramberg, Dunningen, Oberndorf, Rottweil und Schwenningen. Die Regierungspräsidien und die Landratsämter erstellten dagegen einen „Zielplanungsentwurf“, in dem die Stadt Schramberg als zukünftiger Mittelpunkt einer Gebietskörperschaft aus Aichhalden, Rötenberg, Hardt, Lauterbach, Tennenbronn und Waldmössingen mit potenziell 33.365 Einwohnern gedacht war. Rötenberg war in der Zielplanung zunächst dem Verwaltungsraum Alpirsbach zugeordnet, beantragte aber, dem Verwaltungsraum Schramberg zugeordnet zu werden.
Das theoretische Ziel war, dass städtische Verwaltungseinheiten mindestens 8000 Einwohner und ländliche Verwaltungseinheiten mindestens 5000 Einwohner haben sollten. Damit war in vielen kleinen Gemeinden in Baden-Württemberg wie Aichhalden und Rötenberg klar, dass ihre Stunde geschlagen hatte und ihnen die Landesregierung das Ende ansagte – zunächst entweder freiwillig mit abschätzig als „Abschlachtprämien“ bezeichneten Sonderzuschüssen oder später zwangsweise durch ein Landesgesetz.
Daraufhin kam es zu einer Welle von Fusionen unterschiedlicher Art. 1972 befanden sich mehr als 1000 Gemeinden in Verhandlungen über die Bildung von Einheitsgemeinden oder Verwaltungsgemeinschaften. Aichhalden und Rötenberg waren damit alles andere als Einzelfälle, sondern Mosaiksteine einer Gesamtentwicklung in allen Teilen des Landes. Zu Beginn des „Schlachtfestes“ beschloss der Gemeinderat von Aichhalden unter der Führung seines jungen Bürgermeisters Reinhold Kühner aber selbstbewusst, dass die Gemeinde eine für ihre Zukunftsaufgaben ausreichende Verwaltungskraft besitze und damit selbständig bleiben wolle.
Zu klären war nun auch im „Verwaltungsraum Schramberg“ die Frage, wie dessen Zukunft aussehen wollte. Konkret stand die Frage im Raum, ob sich die Gemeinden in der Umgebung des zukünftigen Mittelzentrums Schramberg in diese Stadt eingliedern lassen oder mit ihr in einer Verwaltungsgemeinschaft zusammenarbeiten wollten. Zur Besprechung der im wahrsten Sinn des Wortes „im Raum“ stehenden Fragen ergriff Bürgermeister Dr. Konstantin Hank (1907 – 1977) aus Schramberg die Initiative und lud die Bürgermeister der Nachbargemeinden zur Bildung einer Arbeitsgemeinschaft zur Gemeindereform ein, die sich am 29. Oktober 1969 das erste Mal auf dem symbolträchtigen Fohrenbühl traf, einem geschichtsträchtigen Grenzpunkt an der früheren badisch-württembergischen Landesgrenze.
Die Zeit der Gemeindereform war für die heutige Große Kreisstadt Schramberg im Rückblick eine Zeit der großen Weichenstellungen in ihrer Geschichte. Bürgermeister Dr. Konstantin Hank arbeitete seit seiner Wahl im Jahr 1954 mit großem Engagement daran, die aus seiner Sicht entwicklungsgestörte Stadt mit einseitiger Wirtschaftsstruktur aus ihrer Randlage herauszuführen, insbesondere aus dem Bildungs- und Verkehrsschatten. Dazu wurde die Infrastruktur kontinuierlich ausgebaut, repräsentiert vor allem durch ein neues, modernes Krankenhaus.
In der Kreisreform sah Dr. Konstantin Hank die Chance, die Stadt Schramberg aus ihrer schicksalhaften „Gefangenschaft“ im Landkreis Rottweil zu befreien und kämpfte daher leidenschaftlich für einen Großkreis Villingen-Schwenningen. Zum Ende seiner dritten Amtszeit strebte der Kommunalpolitiker auch den Aufstieg zur Großen Kreisstadt und den Titel Oberbürgermeister an. Dazu brauchte die Stadt Schramberg Eingemeindungen, um über die für diese Rangerhebung bis heute erforderliche Zahl von 20.000 Einwohnern zu kommen.
Ein „Groß-Schramberg-Plan“, wie ihn sich bereits sein Amtsvorgänger Dr. Friedrich Arnold drei Jahrzehnte zuvor vorgestellt hatte, ließ sich aber ein weiteres Mal nicht verwirklichen. Im Unterschied zur Stadt Rottweil und zur Stadt Oberndorf am Neckar, die jeweils sechs kleinere Gemeinden eingliedern konnten, war der Stadt Schramberg zum 1. Dezember 1971 nur die Eingliederung der Gemeinde Waldmössingen möglich, die aber ausreichend war, um über die 20.000-Einwohner-Marke zu springen und in die Gruppe der Großen Kreisstädte des Landes Baden-Württemberg einzutreten.
Zu einer Wiederherstellung der bis 1806 bestehenden „Herrschaft Schramberg“ der Grafen von Bissingen und Nippenburg aus Aichhalden, Lauterbach, Mariazell und einem Teil von Sulgen und Tennenbronn waren die im 19./20. Jahrhundert zu starkem Selbstbewusstsein gelangten Nachbargemeinden der Stadt Schramberg aber nicht bereit. Das Anti-Schramberg-Gefühl wurzelte rückblickend einerseits in historischen Erfahrungen, wenn man zum Beispiel an den „Krieg“ zwischen Aichhalden und Schramberg um eine eigene Mühle im 18. Jahrhundert denkt, und andererseits in dünkelhafter Stadtarroganz gegenüber ländlichen Nachbarn.
Jedenfalls schlug der landhungrigen Stadt Schramberg und ihrem ehrgeizigen „König Konstantin“ heftiger Widerstand entgegen, ganz besonders aus Hardt. Im Vergleich sah der Schramberger Oberbürgermeister seine Stadt daher auch als großen Verlierer der Gemeindereform – in der Bilanz ein großer Wermutstropfen in seiner ansonsten sehr erfolgreichen, zwanzigjährigen Amtszeit mit der Erhebung zur Großen Kreisstadt. Von dem SPD-Innenminister Walter Krause (1912 – 2000) ist auch das Wort überliefert, „die Gemeindereform sei an Schramberg vorbeigegangen.“
Die Gemeinde Aichhalden begann sich im Jahr 1971 um einen Zusammenschluss mit der Gemeinde Rötenberg zu bemühen. Das Regierungspräsidium Tübingen sah in einem solchen Zusammenschluss die für beide Gemeinden richtige Lösung – in Verbindung zusätzlich mit einer überfälligen Grenzbereinigung zwischen der Gemeinde Aichhalden und der Stadt Schramberg. Allerdings stieß das Angebot aus Aichhalden in Rötenberg nicht auf Gegenliebe. Rötenberg wollte um jeden Preis seine Selbständigkeit erhalten, was grundsätzlich ehrenwert, aber gleichzeitig unrealistisch war. Die Gemeinde Aichhalden hielt ihr Gesprächsangebot gegenüber der Gemeinde Aichhalden aber weiterhin grundsätzlich offen. In einer Bürgeranhörung am 21. November 1971 wurde eine Eingemeindung nach Aichhalden in Rötenberg jedeoch mehrheitlich abgelehnt.
Unter dem Eindruck der Entscheidung in Rötenberg, der Eingliederung der Gemeinde Waldmössingen in die Stadt Schramberg, dem Druck späterer Zwangsmaßnahmen und dem Verlust der in der Freiwilligkeitsphase noch möglichen Sonderzuschüsse nahm die Gemeinde Aichhalden auch Kontakt mit der Stadt Schramberg auf, um zu erkunden, wie eine mögliche Eingliederung aussehen könnte. Die Stadt Schramberg unterbreitete daraufhin der Gemeinde Aichhalden ein ähnliches Angebot wie zuvor der Gemeinde Waldmössingen. An einer Wegscheide der Geschichte kamen Bürgermeister Reinhold Kühner und der Gemeinderat zu dem Entschluss, die Bürgerschaft über die große Frage einer Eingliederung in die Große Kreisstadt Schramberg entscheiden zu lassen.
Die Bürgerschaft wurde in einer Denkschrift ausführlich über den Sachstand informiert und am 21. Januar 1972 zu einer Bürgerversammlung in die Josef-Merz-Halle eingeladen. Bei dieser Bürgerversammlung hatte Bürgermeister Reinhold Kühner einen schweren Stand, da sich nur Gegner zu Wort meldeten, die in der Erwartung chronischer Benachteiligung in einer zur Stagnation verurteilten Stadt Schramberg eindeutig gegen eine Eingemeindung Position bezogen und damit bereits einen Eindruck von der allgemeinen Stimmung gaben. Gegen die Kritiker seines in alle Richtungen offenen Kurses rief Reinhold Kühner aus: „Nicht die Gemeinde verkaufen will ich, sondern wenn man die Reformlawine auf sich zurollen sieht, möchte ich, dass wir im Interesse aller, unsere Haut so teuer als möglich verkaufen. Weder der Gemeinderat noch ich sind einseitig festgelegt. Wir wollen das Schicksal in die Hand des Bürgers legen, ehe eine folgenschwere Entscheidung fällt.“ Bei einer sehr hohen Beteiligung von 84.2 % fiel das Ergebnis der Bürgeranhörung am 30. Januar 1972 in Aichhalden unmissverständlich klar mit 86.9 % gegen und 13.1 % für eine Eingemeindung nach Schramberg aus, die sich damit erledigt hatte.
Nur zwei Wochen war die gescheiterte Eingemeindung am 14. Februar 1972 naturgemäß auch das große Thema beim traditionellen Fastnachtsmontag. Viele Gruppen brachten das Thema auf die Straße: Die „Jammertäler“ hatten das Rathaus von Schramberg und Aichhalden nachgebaut, aus dem Rathaus von Aichhalden regnete es Apfelsinen und Bonbons, aus dem Rathaus von Schramberg dagegen nichts, die Gruppe „China“ trug die Eingemeindung mit einem Sarg zu Grabe, der Schützenverein stellte dar, dass trotz Gießen und Düngen kein „Kopfsalat“, das Symbol der als „Salatfidla“ geneckten Schramberger, gedeihe, eine andere Gruppe ließ die Ämter der Stadtverwaltung Schramberg aufmarschieren und Bürgermeister Reinhold Kühner nahm sich humorvoll selbst auf den Arm, indem er sich von seinem Amtsboten Roming mit einem Motorrad mit Seitenwagen und Stopp-Schildern im Umzug mitfahren ließ. Als Dorfbüttel hatte Franz Moosmann beim Fastnachtsball des Männergesangvereins Liederkranz außerdem eine originelle Idee, als er ein Eingemeindungsangebot der Stadt Schiltach und den neuen Gemeinschaftsnamen „Aichtach“ vorstellte. In dem momentan entstehenden Interkommunalen Gewerbegebiet würde er sich wohl bestätigt sehen …
Mit ihrem Selbständigkeitskurs war die Gemeinde Rötenberg bei der Landesregierung wenig überraschend zur Erfolglosigkeit verurteilt. Nach der von oben verordneten Einsicht war man in Rötenberg nolens volens zu Verhandlungen mit Aichhalden bereit. Bei einer erneuten Bürgeranhörung am 13. Januar 1974 hatte sich das Meinungsbild mit einer mehrheitlichen Zustimmung zu einer Eingemeindung gewandelt. Unglücklich waren aber viele Bürger über den „Untergang“ ihres Ortsnamens und hätten gerne eine Neubildung wie „Aichberg“ gesehen. Am 14. Januar 1974 konnten daraufhin Bürgermeister Reinhold Kühner für Aichhalden und Bürgermeister-Amtsverweser Julius Hägele aus Rötenberg den Eingemeindungsvertrag unterzeichnen, der zum 1. Juli 1974 in Kraft trat. Nach der „Zangengeburt“ herrschte allgemeine Ernüchterung. Anders als fünf Jahre zuvor bei der Eingliederung von Bach-Altenberg nach Rötenberg gab es keine Feier mit Gesang- und Musikvereinen und Freibier in den Gaststätten, sondern einen ruhigen, stillen Tag – mit dem Übergang zur Tagesordnung in der größer gewachsenen Gemeinde Aichhalden mit ihrem neuen Ortsteil Rötenberg. Bürgermeister Reinhold Kühner brachte es auf den Punkt: „Von Freuen kann keine Rede sein.“
Ein besonderes Kapitel der Gemeindereform war für die Gemeinde Aichhalden und die Große Kreisstadt Schramberg zum Ende hin ein größerer Grenzausgleich, der seit dem 19. Jahrhundert ergebnislos im Raum stand. Auf dem Brambach ragte das Gebiet der Gemeinde Aichhalden mit „fünf Fingern“ in das Gebiet der Stadt Schramberg hinein und schnitt Heiligenbronn als Exklave vom Gebiet der Stadt Schramberg ab. Die eigenartige Markungslage war wohl in der Zeit der Rodungsinseln bei der Erschließung dieses Gebietes als Siedlungsraum im Mittelalter entstanden und hatte seitdem die Zeitläufte überdauert. Für die Stadt Schramberg war diese Situation ein erhebliches Hindernis für die Entwicklung ihrer ersten Gewerbe- und Industriegebiete im Stadtteil Sulgen.
Die Landesregierung erwartete von der Gemeinde Aichhalden einen Grenzausgleich, über den die Gemeinde Aichhalden mit der Großen Kreisstadt Schramberg aber selbstbewusst verhandelte. Nach längeren Verhandlungen wurde der Vertrag von Bürgermeister Reinhold Kühner und Oberbürgermeister Dr. Konstantin Hank am 27. Juni 1974 unterzeichnet. Für den Oberbürgermeister der Großen Kreisstadt Schramberg war dieses Ereignis zum Ende seiner zwanzigjährigen Amtszeit eine seiner letzten Amtshandlungen. Zum 1. Januar 1975 trat die Gemeinde Aichhalden daraufhin 350 Hektar und etwa 250 Bürgerinnen und Bürger an die Große Kreisstadt Schramberg ab, die im Gegenzug der Gemeinde Aichhalden in drei gleichen Jahresraten 384.000 DM für Steuereinbußen, Investitionen und die Übernahme der Wasserbesorgungseinrichtungen zahlte und die Darlehen für Wegebaumaßnahmen in Höhe von 112.000 DM übernahm. Die Gemeinden im Verwaltungsraum Schramberg schlossen sich zum Ende der Gemeindereform schließlich am 7. Juni 1974 in einer vereinbarten Verwaltungsgemeinschaft zusammen, die dieses Jahr wie die neue Gemeinde Aichhalden ebenfalls 50 Jahre alt geworden ist und in der die Große Kreisstadt Schramberg als erfüllende Gemeinde vor allem die Aufgabe der Bauleitplanung für die anderen Gemeinden wahrnimmt. Eine enge Zusammenarbeit entwickelte sich darüber hinaus auch in der Fremdenverkehrsgemeinschaft „Die Gastlichen Fünf im Schwarzwald“, die von 1975 bis 2004 bestand.
Die Schlussgesetze der Gemeindereform traten zum 1. Januar 1975 in Kraft. Insgesamt wurde die Zahl der Gemeinden von 3378 auf 1104 um fast drei Viertel reduziert. In die neuen Verhältnisse fanden sich die beteiligten Gemeinden seitdem mehr oder weniger ein. Durch zahlreiche Eingemeindungen gewannen einige Städte zwar erheblich an Bevölkerung und Gewicht, aber wohl jeder Oberbürgermeister oder jede Oberbürgermeisterin kann wohl das Lied „Jedem recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann“ singen. Gesamtstädtischem Denken steht nach wie vor das Eigendenken und -leben der Orte oft entgegen – ein bemerkenswertes Phänomen, über allen gesellschaftlich-kulturellen Wandel in der Moderne hinweg. Aichhalden ist auch 50 Jahre später weiter Aichhalden („Oachhalde“) und Rötenberg ist auch 50 Jahre später weiter Rötenberg („Reitenberg“).
Bei der Gemeindereform vor 50 Jahren ist es in der Verwaltungsstruktur unseres Bundeslandes auch im Großen und Ganzen seitdem geblieben – von drei Eingemeindungen, die neuere Landesgeschichte schrieben abgesehen, interessanterweise zwei davon auch in unserer Region: 2006 die Eingliederung der Gemeinde Tennenbronn in die Große Kreisstadt Schramberg, 2007 die Eingliederung der Gemeinde Betzweiler-Wälde in die Gemeinde Loßburg und 2009 die Neubildung der Gemeinde Kleines Wiesental im Landkreis Lörrach. Andere „Kandidaten“ sind im Moment aus dem Land nicht bekannt, aber natürlich nicht auszuschließen, je nachdem wie sich eine Gemeinde entwickelt und insbesondere wie es um ihre Finanzlage bestellt ist.
Die meisten Kenner der Landespolitik erwarten auf Sicht keine neue Gebietsreform in Baden-Württemberg. Vereinzelte Gerüchte von in den Schubladen liegenden Plänen, die nach der nächsten Landtagswahl hervorgeholt würden, gibt es aber doch. Freilich bedürfte es für ein ähnliches Reformwerk wie vor 50 Jahren erneut einer Bündelung starker politischer Kräfte unter einer sehr starken politischen Führung. Nach der nächsten Landtagswahl im Jahr 2026 mit der spannenden Frage eines neuen Ministerpräsidenten nach dem Ende der Ära von Winfried Kretschmann werden wir klüger sein. Gespannt sein darf man gleichzeitig auch auf den neuen „Landesentwicklungsplan“, der seit einigen Jahren überarbeitet wird, ganz besonders auch aus der Sicht des Mittelbereichs Schramberg, dessen Zentrum in den letzten 25 Jahren doch einiges von seiner einst hart erarbeiteten und erkämpften Bedeutung verloren hat.
Die vor 50 Jahren geschaffenen Strukturen haben sich in der Summe in diesem Zeitraum nach allgemeinem Urteil bewährt. Gleichwohl bleibt die Zeit auch für die öffentliche Verwaltung nicht stehen. Und was vor bald 60 Jahren von der Regierung des Landes Baden-Württemberg über ein „up-date“ von Staat, Gesellschaft und Verwaltung gesagt wurde, kann man eigentlich eins zu eins heute wiederholen. Auch wir stehen heute zweifellos wieder an einer solchen Wegmarke aufgrund vieler Entwicklungen in der Gegenwart, die uns immer bewusster werden, teilweise leider auch sehr schmerzhaft, wenn wir zu spät die Zeichen der Zeit erkennen.
Die im wahrsten Sinne des Wortes „flächendeckenden“ Herausforderungen hat der Städtetag Baden-Württemberg im Jahr 2022 in einem eindrücklichen „Kommunalen Themen-Schaufenster“ zusammengestellt, das vice versa auch für den Gemeindetag Baden-Württemberg und damit auch für die Ebene von Aichhalden & Rötenberg. Oft hat man ja die Sorge, dass uns das alles über den Kopf zu wachsen droht – und nicht zu Unrecht. Unsicherheit macht sich breit, wie das „alles“ weitergehen kann. Wir sehen es an den Wahlergebnissen und mittlerweile nicht mehr nur im Osten unseres Landes, sondern auch im Westen. Und auch in Aichhalden wir man von einem privaten Plakat „begrüßt“, das zu „Widerstand“ aufruft. Das ist alles, so meine ich persönlich als zurück- und vorausschauender Historiker, sehr ernst zu nehmen.
Ein Jubiläum wie „50 Jahre Aichhalden & Rötenberg“ macht aber Mut, sich auf Stärken solche Erfolgsgeschichten kommunaler Demokratie und Entwicklung zu besinnen. Die Bündelung der Kräfte und das Überwinden von Grenzen ist durch die Zusammenarbeit von Bürgermeistern, Gemeinde- und Ortschaftsräten und Bürgerschaft in der Summe gelungen. Mit dieser Erfahrung können Aichhalden & Rötenberg zuversichtlich in die Zukunft gehen und sich den Aufgaben stellen, die uns das „Kommunale Themen-Schaufenster“ zeigt.